Wahr oder nicht wahr? – Mannheim, Rheinhafen – Am gleichen Tag, Kapitel 42, Teil II

Wie üblich saß ich abends um 17.00 Uhr mit Brigitte zur Übergabe zusammen. Die warme Sommersonne schien durch die Fenster unseres Frachtschiffs.
Brigitte sagte: „Ich bin irgendwie unruhig, ich habe gestern nacht schlecht geträumt.“
Sie ließ ihren noch heißen Kaffee stehen und ging ins Büro um die neuesten R-Faxe zu checken.
„Ole, kommst Du mal?“
Ich kannte ihre Stimme gut und wusste, sie hatte in ihren Nachrichten etwas gefunden, was ihre schlechten Träume bestätigte.
„Isabella hat eine komische Nachricht geschickt.“
„Notstand, Vogelgrippe 100% Sterblichkeit, Übertragung durch die Luft, bitte bestätigen!“
Was sollte das. Isabella war mit uns befreundet, aber solche Scherze traute ich ihr nicht zu. Sie war ein sehr ernsthafter Mensch. Ich setzte mich an den anderen Rechner.
„Versuch Du, Isabella zu erreichen, ich recherchiere, was eigentlich los ist.“

Ich rief meinen Browser auf, die Seite www.finders.de war standardmäßig voreingestellt. Zum Suchbegriff „Vogelgrippe“ kam die Kategorie Epidemien mit 50 Ergebnissen, die 10 mit heutigem Datum nach Regionen geordnet zuerst.

Das FINDERS-Konsortium hatte WWW eine neue Bedeutung gegeben.
Alle Unternehmen, Agenturen, Comunitymanager, Semantikmanager welche mit FINDERS zusammenarbeiteten, mussten eine Erklärung unterschreiben, in der sie sich den Grundsätzen „W wie Wer?, W wie Wert? ,W wie Wahr? „ verpflichteten.
Ist der Angezeigte, der, der er vorgibt zu sein?
Welchen Wert hat ein Angebot für den Suchenden?
Sind die Angaben wahr?

Zertifizierung für die Kategorie
„Endkunden kaufen Schuhe“
als Kategorienagentur

Durch die unabhängige WWW-F Zertifizierungsstelle wird ständig die Einhaltung folgender Kriterien geprüft:

· Wer?
Ist der Anbieter der, den der Suchende erwartet?
Möchte der Anbieter gefunden werden?
· Wahr?
Entspricht die Information den Erwartungen des Suchenden?
· Wert?
Wird bewertet, welchen Wert eine Information für den Suchenden hat?

Geprüft 1.1.2010
Zertifizierungsstelle
FINDERS-Konsortium
Friedrichshafen

Hierdurch gelang es FINDERS, trotz des rasanten Vormarschs von Gooday, die Marktanteile von über 50% in den Ländern mit deutscher, französischer Sprache, sowie in den skandinavischen Ländern und Japan zu halten.
Die Ergebnisanzeige von Informationskategorien war anders aufgebaut, als die Anzeige von Produktkategorien. Während bei Produktkategorien Hersteller und Händler gelistet waren, konnten sich je Informationskategorie maximal 50 Redaktionen bei FINDERS akkreditieren. Die Auflagen waren hart, aber es lohnte sich. Jede Meldung musste durch eine Person vor Ort mit Achtcard bestätigt werden, damit diese veröffentlicht werden durfte. In der Ergebnisanzeige gab es keine Werbung.
Trotzdem war eine Akkreditierung äußerst lukrativ, da man bei jedem Wort der redaktionellen Texte durch einen Rechtsklick eine zu diesem Wort passende Produkt-Kategorie angezeigt bekam. Durch die aus den Produktkategorien generierten Umsätze finanzierten sich die Redaktionen.

Ich klickte alle Seiten durch, fand jedoch keine außergewöhnlichen Ergebnisse.
In Deutschland wurde die Tagesliste der Geflügelfarmen angezeigt, welche zum Sperrgebiet erklärt waren (Der Jahreszeit entsprechend waren es nur 5 Farmen in ganz Deutschland).
Durch die sich häufenden Fälle war Massentierhaltung verboten worden. Maximal 1000 Tiere, auf mindestens 10 Gebäude aufgeteilt, durften gehalten werden.
Auch für die anderen Länder waren die Meldungen eher normal. Schließungen von Farmen waren hier keine Meldung mehr wert. Die Sterblichkeit der Menschen lag inzwischen insbesondere in den armen Ländern ähnlich hoch wie bei Aids, da man bei privater Tierhaltung einfach keine absoluten Isolationsbedingungen und permanente Veterinärkontrollen aufrechterhalten konnte.
Besondere internationale Meldungen wie 100 % Sterblichkeit oder Übertragung durch die Luft gab es nicht. Aus den USA gab es nicht eine einzige neue Meldung.
Ich setze mir zur Kategorie Epidemien einen Alarm für neue Meldungen auf mein Handy.
Seltsam, dachte ich, ist Isabella doch durchgedreht? „Hast Du Isabella erreicht?“
Brigitte schüttelte entgeistert den Kopf. Ich habe Handy, Festnetz, R-Fax, Fax, E-Mail mit Lesebestätigung versucht. Nirgends bin ich durchgekommen.
„Okay, dann ist es ernst. Schicke das R-Fax von Isabella mit allen Sendeberichten an den Kategorienmanager für ,Epidemien’!“
Alles andere war für mich jetzt unwichtig. In der Kategorie Epidemien klickte ich jetzt auf Blog.
Tatsächlich fand ich einige ähnlich verstümmelte Meldungen wie von Isabella aus dem Ausland. Die ersten deutschen Kommentare taten diese Meldungen als Spinnerei ab. Ein Kommentator hatte eine passende Ausnahmezustandsmeldung im Internet gefunden und war so geistesgegenwärtig, den gesamten Text in den Kommentar zu kopieren.
Ich klickte die Quelle an und erhielt eine „Diese Website kann nicht angezeigt werden“ auf meinem Browser.
Anschließend begann ich in den USA verschiedene Seiten aufzurufen. Immer wieder kam der gleiche Fehler. Ich rief die Seite der US-Regierung auf, wieder keine Anzeige.
Anschließend rief ich die Seite der französischen Kategorienagentur für Schuhe ohne Probleme auf.
Seltsam, es waren fast 2 Stunden vergangen, warum hat der Kategorienmanager von „Epidemien“ noch nicht geantwortet.
R-Faxe von Kategorienmanagern wurden immer mit Vorrang angezeigt. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz zwischen Kategorienmanagern, dass man sich nur anschrieb, wenn es wichtig war, dann aber sofort reagierte. Ich rief den Kollegen innerhalb der nächsten Stunde immer wieder an. Jedes mal kam sofort das Besetztzeichen. Trotzdem war dieses Zeichen für mich beruhigend, denn bei Isabella getätigte Anrufe wurden nicht einmal mehr mit einem Zeichen quittiert.
Da schrie Brigitte erneut aus. „Guck mal.“ Schnell war ich bei ihrem Schreibtisch. Sie hatte ihre R-Faxe angeschaut. „Neueingang 20.000“, stand hier. Von da an mussten sich Brigitte und ich wieder auf unsere eigene Arbeit konzentrieren und Standardmails entwickeln, um den Kunden zu erklären, warum die Hersteller aus dem englischsprachigen Raum nicht mehr online waren.

Wenig später fiepte Brigittes Handy, einmal, dann immer wieder.
Normalerweise hätte Brigitte auch auf das Signal „Neue SMS eingetroffen“, reagiert.
Schließlich war es schon fast eine Besonderheit, wenn sie eine nicht autorisierte SMS erhielt. Wäre die SMS durch die Achtcard autorisiert gewesen, so wäre sie nicht auf dem Handy von Brigitte als SMS angekommen, sondern da wo derzeit die Achtcard von Brigitte eingesteckt war als R-Fax – im PC eben.
Als Semantikmanagerin hätte Shaona eine hohe Priorisierung gehabt.
Brigitte hätte sich trotz der 20.000 weiteren R-Faxen direkt um Shaona gekümmert.

So stand Brigitte nur nach einer Stunde auf, um das ständige Gefiepe abzustellen. 500 SMS waren inzwischen von verschiedensten Absendern eingetroffen.
„Alles Spam, wer soll dem denn glauben?“, murmelte Brigitte und stellte den Klingelton leise.

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