Totalversagen? Ein Blick aus dem Jahr 2120 auf die Digitalstrategie der Ära Merkel

Die deutsche Regierung hat für ihr aktuelles Handeln und die Krisenkommunikation in der Pandemie von den Bürgern gute Noten erhalten. Wir befinden uns allerdings erst am Anfang einer Entwicklung, deren Ausgang schwer vorherzusehen ist. Die Politik fährt auf Sicht. Genau das ist das Problem. Als Zukunftsforscher gehe ich von einer wahrscheinlichen Entwicklung aus und prüfe, ob die Politik sich hierauf vorbereitet hat. Es verdichten sich die Hinweise, dass zukünftige Generationen die Ära Merkel lange nicht so positiv sehen werden wie wir. Wahrscheinlich werden dieses Jahr, beschleunigt durch die Corona-Krise, endgültig die falschen Weichen mit dramatischen Auswirkungen auf die Zukunft gestellt. Gibt es schon aus heutiger Sicht Beweise, dass eine solche Entwicklung hätte verhindert werden können? Gibt es möglicherweise sogar ein fahrlässiges Ignorieren von Fakten und hätte die Bundesregierung entsprechend ihrem Wählerauftrag anders handeln müssen?

Die Gesellschaft der Zukunft ist weitgehend digitalisiert. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass solche Länder ihre Stellung in der Welt erheblich ausbauen werden, welche für sich eine klare und zur gesellschaftlichen Entwicklung des jeweiligen Staates passende Digitalisierungsstrategie entwickelt und diese mit proaktivem Handeln umgesetzt haben. Das sind vor allem China und Südkorea. Deutschland hingegen fährt nicht nur in der Corona-Krise auf Sicht. Der ständige Konsenszwang mit Lobbyisten-Interessen hat den Politikertyp aussterben lassen, der eigene Visionen konsequent umsetzt. Die Merkel-Politik agiert nicht, sie reagiert nur auf aktuelle Ereignisse. So hat es wenig mit fehlender Sachkompetenz zu tun, wenn die Bundesregierung keine klare Digitalstrategie verfolgt. Zulange hat sie sich, zugegeben sehr erfolgreich, als Mittler zwischen globalen Wirtschafts- und Staatsinteressen verstanden. Sie hat die Politik der ruhigen Hand etabliert. Dabei hat sie eine Entwicklung toleriert, in der jeder Politiker den nächsten Shitstorm fürchten muss und sich deshalb möglichst gar nicht erst bewegt. Vor diesem Hintergrund geht es der deutschen Regierung nicht mehr darum, Verantwortung zu übernehmen, sondern Verantwortung möglichst zu delegieren.
Selbst aus dem Blickwinkel des Jahres 2120 wird sie der Gesellschaft einen Bärendienst erwiesen haben. Es widerspricht der Erwartung zukünftiger Generationen, wenn sich der Staat gerade da zurückzieht, wo seine Präsenz für die Allgemeinheit wichtig wäre. Wichtige Aufgaben werden langfristig externen Systemen und Partnern überlassen, bei denen totalitäre Tendenzen in der Zukunft nicht auszuschließen sind. Eine dem Grundgesetz entsprechende Digitalstrategie muss dem Bürger so viele Freiheiten wie möglich einräumen. Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt ….“(Artikel 2 Grundgesetz(1)). Der Staat hat sich auf die für die Allgemeinheit relevanten Aufgaben zu konzentrieren. Struktur relevante Aufgaben kann er an die Wirtschaft delegieren, muss aber zu jedem Zeitpunkt Herr des Verfahrens sein. Unsere Realität sieht anders aus und lässt für die Zukunft nichts Gutes erahnen:

  • Digital werden die verfassungsgemäßen Rechte des Bürgers zunehmend delegiert und ausgehebelt. Bürgerfreundliche Digitalisierung wird bei uns in der Regel mit Datenschutz gleichgesetzt. Datenschutz ist entstanden, weil der Gesetzgeber ohne digitales Gesamtkonzept auf das Entstehen einer neuen Art von Rechtsverstößen reagiert hat. Der Schutz von Daten hat wenig mit Bürgerrechten zu tun. Die DSGVO regelt die rechtskonforme Verwertung von Bürgerdaten durch Unternehmen. Anders ausgedrückt, wenn ein Unternehmen eine erhebliche Begehrlichkeit beim Bürger weckt, darf es im Gegenzug die Einschränkung seiner Bürgerrechte vereinbaren. Diese Einschränkung ist sogar wie bei den früheren Sklaven vererbbar, wenn möglicherweise in Zukunft noch die Kinder eines Bürgers zum Beispiel wegen seiner öffentlich bekannten schizophrenen Erbanlage diskriminiert werden. Der Begriff der Freiwilligkeit wurde so im Interesse der Datenverwerter pervertiert.
    Eine echte Privatsphäre setzt eine umfassende Verfügungsberechtigung über die eigenen Daten voraus. So, wie jeder Wohnungsmieter die Verfügungsgewalt über seine Wohnung hat, indem er den Schlüssel besitzt, muss er auch den digitalen Schlüssel zu seinen Daten besitzen. Wie in der physikalischen Welt muss er damit seine Unterlagen vertraulich halten, den Zugriff Dritter bestimmen und auch dem Zugriff Dritter wieder entziehen können. Da, wo sinnvoll, muss digitales Bürgerrecht weitergehen als analoges. Bürger sollten Unterlagen, die sie an Dritte weitergegeben habe, aus der Ferne löschen oder ihnen jede Möglichkeit entziehen können, einen Personenbezug herzustellen.
  • Aus Sicht zukünftiger Generationen völlig unverständlich ist, warum der Staat im Sinne der Allgemeinheit nicht eine digitale Infrastruktur verordnet hat, um die vordigitalen gesellschaftlichen Errungenschaften zu schützen. So wie im Versorgungsauftrag Stadtwerke lokal für unser Wasser zuständig sind, muss es auch dezentrale Betreiber Bürgerrechte erhaltender Infrastrukturen geben. Stattdessen verschenkt der Staat wesentliche deutsche Wertschöpfung an ausländische Global Player. Aktueller Höhepunkt der fehlenden deutschen Digitalisierungsstrategie ist die Entwicklung der Corona-Tracking-App. Ohne Demokratie erhaltende Vorgaben wird der Wissenschaft und Wirtschaft der Auftrag erteilt, punktgenau Infektionsherde erkennen und eindämmen zu können. Da ist es absolut bemerkenswert, wenn sich in unserem Bürger feindlichen Umfeld 300 Wissenschaftler finden, um eine dezentrale Lösung der App zu entwickeln. En dezentraler Ansatz ist aus Bürgersicht der einzig richtige. Es wäre Aufgabe der Bundesregierung gewesen, frühzeitig den Aufbau einer digitalen Bürgerrechts-Infrastruktur in den politischen Diskussionsprozess zu bringen. Denn es braucht Zeit, ein breites Verständnis für eine Demokratie erhaltende Infrastruktur zu schaffen. Ad Hock Maßnahmen in Krisenzeiten lassen diese tiefgreifende Reflektion nicht zu. So ist es unmittelbar von der Regierung Merkel zu verantworten, wenn die Corona-Tracking-App an der fehlenden gesellschaftlichen Gesamtstrategie scheitert. Die notwendige 60% Bürgerbeteiligung wird nicht erreicht werden. Es ist konsequent, dass die 300 Dezentralisierungsbefürworter ihre Arbeit niedergelegt haben. So ist es auch unwahrscheinlich, dass ausgerechnet die Urgesteine zentraler IT-Entwicklung Deutsche Telekom und SAP aus der verhinderten zentralisierten Lösung ein Bürgerrecht freundliches Ergebnis erarbeiten werden. Dies ist ein weiterer Hinweis dafür, dass der Staat sich auf dem Rücken der Bürger seiner Verantwortung entzieht. Zukünftige Generationen werden hierin möglicherweise ein grob fahrlässiges Handeln der Regierung sehen. Die Entschuldigung, die Deutsche Telekom und SAP könnten mit Google und Apple auf Augenhöhe eine Umsetzung aushandeln, bedeutet übersetzt, alle 4 Player haben auf Grund ihrer Firmenentwicklung ein Interesse, der wie auch immer geartet dezentralen Technologie, zentrale, skalierbare und globale Geschäftsmodelle zu hinterlegen. Der Bürger wird hier als Konsument, der „freiwillig“ auf seine Bürgerrechte verzichtet, sicher Berücksichtigung finden.

Die Geschichtsschreibung des Jahres 2120 sieht Deutschland zunehmend handlungsunfähig, weil bereits 2020 die deutschen Abhängigkeiten von China und den globalen Datenverwertern zu groß waren. Tatsächlich sind Google, Facebook und weitere in ihren Konzepten gar nicht so weit von China entfernt. Allen gemeinsam ist das Interesse an einer möglichst vollständigen Beherrschung der weltweiten Märkte und deren Bürger. Wäre heute bereits eine akzeptierte Bürgerrechts-Infrastruktur vorhanden, hätten möglicherweise Billionen Euro an Schaden ohne anhaltenden Lockdown verhindert und viele Menschenleben gerettet werden können. Während sich derzeit das Interesse der Gesundheitswirtschaft zur Bekämpfung der Pandemie auf die Identifizierung und Analyse der Kranken konzentriert, sollte ein Bürger zentriertes Konzept den gesunden Menschen in den Mittelpunkt stellen. Nicht der potentiell Infizierte, sondern der Gesunde hat ein Interesse an diesem System. Aus Sicht eines Gesunden, der nicht angesteckt werden will – Gesunde sind zum Beginn der Pandemie die Mehrheit – macht es keinen Sinn, sich darauf verlassen zu müssen, dass sich ein Infizierter die App freiwillig installiert hat und freiwillig seine Infektion meldet. Nur eine kostenlose Bürgerrechts-Infrastruktur, die im Pandemiefall von jedem Bürger eingesetzt werden kann, gewährleistet den Schutz der Gesunden. Er wird die Möglichkeiten der Bürgerrechts-Infrastruktur benutzen, wenn die hierdurch entstehende Einschränkung der Bürgerrechte wesentlich geringer ausfallen würde, als bei den alternativ einzuhaltenden Maßnahmen.

Überlässt man die Erarbeitung Demokratie relevanter Infrastrukturen den Unternehmen, so werden in deren Geschäftsmodellen die Prioritäten aus Bürgersicht eher zufällig Berücksichtigung finden. Mit Kranken lässt sich mehr Geld verdienen, als mit Gesunden. Ein Bürger freundliches Pandemievermeidungskonzept hat andere Schwerpunkte:

    1. Die Vermeidung der Ansteckung muss an erster Stelle stehen. Es sollte gesellschaftlich akzeptabel sein, wenn ein Bürger auf seinem Device ein lautes Piepsen einstellt, welches ausgelöst wird, sobald die Mindestdistanz zwischen zwei Menschen unterschritten wird. Dafür markiert jeder Nutzer die zu seiner Kontaktgruppe (Familie, Mitbewohner) gehörenden Devices als nicht Alarm relevant. Alle im Raum Befindlichen werden durch das laute Piepsen über die unerwünschte Annäherung informiert und können über Blicke oder auch verbale Äußerungen eine soziale Kontrolle ausüben. Ein großes Problem stellt bei uns zum Beispiel das Einhalten des Mindestabstands im Supermarkt dar. Spätestens nach den ersten Pieps-Konzerten werden Filialleiter schnell Gesundheit erhaltende Konzepte erstellen. Ohne Begegnungsverbot in den Regalgängen bleibt der Mindestabstand bei uns Theorie.

    2. Ist der gesunde Bürger der Meinung, durch eine unerlaubte Annäherung (zum Beispiel bei Anhusten) infiziert worden zu sein, hat er die Möglichkeit, zur gespeicherten WAN anonyme IP-Adresse des Gefährders einen Kommentar zu speichern. In einem Rechtsstaat muss es genau wie bei einem Autounfall zumindest den theoretischen Anspruch auf Schadensersatz wegen Fahrlässigkeit geben.
    Erläuterung von WAN Anonymität im Video:

    3. Sollte eine Infizierung des Bürgers festgestellt werden, werden wie bereits geplant, alle Betroffenen anonym informiert. Zusätzlich können dezentral gespeicherte mit Markern versehenen IP-Adressen an das Gesundheitsamt weitergegeben werden. Über die IP-Adresse lässt sich die zugehörige Trust-Station finden. Grundsätzlich werden wie bei dem geplanten System anonyme Push-Nachrichten an alle, die sich dem Infizierten genähert haben, geschickt. Im Gegensatz hierzu kann aber für jeden Betroffenen über die jeweilige Truststation die Personalisierung hergestellt werden. Aus der Perspektive eines Gesunden ist es durchaus angebracht, dass dieser den ihn fahrlässig Infizierenden haftbar machen kann. Denkbar für eine nahe Zukunft wäre, über das System sogar automatische Bußgelder zu generieren, bei denen über eine künstliche Intelligenz die Kommentare der „Angegriffenen“ Berücksichtigung finden. Die Bezahlung würde über ein anonymes Konto erfolgen. Erst wenn der Beschuldigte Widerspruch erheben würde, würde es zur Personalisierung der betroffenen Parteien mittels der Trust-Station für einen klärenden Rechtsstreit kommen.
    Erläuterung zur Funktion einer Trust-Station im Video:

Die Wissenschaft benötigt viele Informationen. Bei einem Bürgerrechtskonzept darf das aber nur ein Aspekt sein. Da die Einhaltung der Distanz bei uns nicht kontrolliert wird, stelle ich in der Raum, dass ein Ansatz, sich de facto auf die potentiellen Kunden von Medizin und Beatmungsgeräten zu konzentrieren, die Pandemie wesentlich langsamer eindämmt, als ein Ansatz, der eine Infizierung Gesunder weitgehend unterbindet. Es ist unbedingt zu verhindert, dass eine App ein weiteres Einfallstor für Geschäftsmodelle zur Datenverwertung öffnet, die bisher keiner vorhersehen kann. Ein Konzept, in dem wieder auf den „freiwilligen“ Austausch von Bürgerrechten gegen Daten gesetzt wird, ermöglicht rechtlich fast alles, bis hin zu einem weitgehenden Bürgerrechtsverzicht.

Hat die Bundesregierung Kenntnis über entsprechende Alternativen gehabt? Hat sie sich damit beschäftigt oder hat die Merkel Regierung durch Aufgabe der ihr vom Bürger übertragenen Obhutspflichten sogar grob fahrlässig gehandelt? Es ist sogar möglich, dass man im Jahr 2120 die fehlende Digitalstrategie und die daraus resultierenden falschen Entscheidungen der Bundesregierung als entscheidenden Fehler sehen wird, der zur Auflösung der deutschen und in Folge aller europäischen Demokratien geführt hat. Mir liegen starke Indizien vor, dass die Bundesregierung nicht an einer bürgerfreundlichen Digitalstrategie interessiert war, ja diese sogar aktiv unterbunden hat.

Seit 1999 beschäftige ich mich mit der Idee, ein die analoge Gesellschaft abbildendes Digitalkonzept aufzusetzen. 1999 zeigte sich auch der Staat einem solchen Konzept noch aufgeschlossen, siehe Schreiben des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Erstmals in einer Patentanmeldung mit Priorität aus dem Jahr 2001 schlage ich vor, dem Bürger eine in seinem Besitz befindliche Infrastruktur für das Internet zu Verfügung zu stellen.

In hunderten von Briefen an die politisch Verantwortlichen habe ich dafür geworben, eine solche Infrastruktur aufzubauen. Meinen aktuellen Brandbrief an die EU-Kommissionspräsidentin Dr. von der Leyen bildet hier den vorläufigen Höhepunkt.
Schon 2014 habe ich die Mitglieder des Bundestags aus dem Ausschuss „Digitale Agenda“ unter der Überschrift „Gesamtkonzept zur Digitalen Gesellschaft, Trusted WEB 4.0“ angeschrieben. Mit Schreiben vom 11.05.2015 und 27.7.2015 habe ich den Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière gebeten, sich für die Umsetzung einer dezentralisierten und anonymisierten IT Infrastruktur für alle stark zu machen. Ein ähnliches Schreiben hatte ich bereits am 03.09.2014 an Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel geschickt. Auf keines dieser Schreiben habe ich eine Antwort erhalten. Ein Mitarbeiter des Bundeswirtschaftsministeriums darauf angesprochen, antwortete mir verwundert: „Wir sind das Wirtschaftsministerium. Was haben wir mit dem Bürger zu tun?“ Ich hoffe, durch Corona hat die Wirtschaft gelernt, dass es ohne den Bürger nicht geht. Ähnliche Antworten haben ich aus der Verwaltung erhalten: „Wir optimieren IT-Verwaltungsprozesse in Behörden, was haben wir mit dem Bürger zu tun?“

Insgesamt 3 Bücher habe ich beim führenden Wissenschaftsverlag Springer zu diesem Thema veröffentlicht. Eine öffentliche Diskussion hierüber wurde von der Datenverwerter getriebenen IT nicht für nötig befunden. Immerhin hat die Bibliothek des Deutschen Bundestages die Bücher aufgenommen und über die Aufnahme in einem Literaturtipp jeden Bundestagsabgeordneten darüber auch informiert. Mehr kann man nicht tun, um die Demokratie zu erhalten.

Die Indizien reichen aus, um Zweifel daran zu äußern, dass entgegen anderslautender Beteuerungen von der Bundesregierung Bürgerrechte in der digitalen Gesellschaft gewünscht sind. Wenn wir aber nicht das Konzept von China kopieren wollen, so sollte seit Beginn der Pandemie klargeworden sein, dass wir den Wettbewerb um eine funktionierende digitale Gesellschaft verlieren werden, wenn wir nicht die Stärkung der Bürgerrechte in den Mittelpunkt stellen.

Die Mehrheit der Bürger hat in der Krise gezeigt, dass sie in der Lage ist, Verantwortung zu übernehmen, wenn man sie ihr lässt. Digitale Instrumente zur Authentifizierung, Verfügungsberechtigung und Personalisierung bei den eigenen Daten gehören in den Besitz des einzelnen Bürgers. Bei jedem zentralen System muss man dem Betreiber vertrauen. Zentrale Systeme können kompromittiert oder auch ganz von Dritten übernommen werden. Sie entziehen sich meist dem Zugriff des Staates. Steuern werden nicht gezahlt, eine Rechtsverfolgung ist nicht möglich. Doch damit nicht genug. Der deutschen Wirtschaft wird hierdurch auch noch die Wertschöpfung entzogen, welche jetzt in der Krise dringend benötigt würde.

DSGVO – heutige Gesetze sind für die digitale Gesellschaft nicht geeignet!

Am 25. Mai 2018 tritt die neue europäische Datenschutz-Grundverordnung(DSGVO) in Kraft. Vier Jahre wurde mit zahllosen Änderungsanträgen hierum gerungen. Wie alle bisherigen Gesetze baut diese auf den Verfassungen der vordigitalen Gesellschaft auf. Warum wird es der Gesetzgeber nicht schaffen, das Ziel des Datenschutzes für den Einzelnen hiermit durchzusetzen? Am Beispiel der DSGVO sei hier gezeigt, wie komplex und umfassend die Herausforderungen der Digitalisierung sind und dass die Voraussetzungen für eine wirkungsvolle Umsetzung in der digitalen Gesellschaft von Gesetzgeber nicht berücksichtigt wurden.

Meine Forderung vorneweg: Wir brauchen eine Infrastruktur für eine Digitalverfassung, damit Gesetze im digitalen Zeitalter überhaupt ihre Wirkung entfalten können!

Gemäß den Trusted WEB 4.0 Kriterien sollen die Errungenschaften der vordigitalen Demokratien die Grundlage dafür bieten, um die Rechte, Pflichten und Ziele in der digitalen demokratischen Gesellschaft zu bestimmen.
Die digitale Gesellschaft unterscheidet sich von der vordigitalen Gesellschaft dadurch, dass zunehmend autonome Systeme eingesetzt werden, deren Entscheidungsbasis nicht mehr menschlich ist. Die ausgeführten Verfahren und Algorithmen entziehen sich dem menschlichen Verständnis und zunehmend seiner Einflussnahme, so nicht besondere Vorkehrungen getroffen werden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden solche Systeme im Sinne menschlicher Mehrheiten entscheiden.

Das wahrscheinlichste Zukunftsszenario auch für Deutschland ist eine totalitäre digitale Gesellschaft, vergleichbar mit dem chinesischen Social Credit System, welches bis 2020 verbindlich für jeden Chinesen eingeführt wird. Jeder erhält bei Geburt eine gewisse Punktzahl. Bei jeder Abweichung eines Bürgers von der gesellschaftlichen Norm werden Punkte abgezogen. In Zukunft wird wohl auch das digital dokumentierte Verhalten der Eltern in die Bewertung einfließen. Wer reisen, eine Familie gründen oder arbeiten will, muss eine bestimmte Zahl an Credits haben. Der Vorteil für Staaten ist die hohe wirtschaftliche Effizienz eines solchen Konzepts, welches in Bezug auf die Effizienzziele skalierbaren US-Geschäftsmodellen wie dem von Facebook entspricht. Zur Bewertung mit Social Credits ist zudem genau, wie bei der Bereitstellung von gezielter Werbung, die Erstellung eines möglichst genauen Personenprofils Voraussetzung. So bietet sich eine enge Zusammenarbeit zwischen Staaten und kommerziellen Datenverwertern an.
Von demokratischer Vielfalt geprägt, ist die heutige Rechtsprechung eher überreguliert, mit immerhin der guten Absicht, jedem Einzelfall gerecht zu werden. Für ein reines Denken in Mehrheiten ist eine solche Justiz uneffektiv. Sie spielt, wenn wir nicht sofort mit aller Kraft ein Demokratie erhaltendes Konzept für die digitale Gesellschaft entwickeln, in Zukunft keine Rolle mehr.

Auch das demokratische Rechtssystem strebt nach Verringerung von Verkehrsunfällen, einer Reduzierung der Kriminalität, etc.. Auch hier werden für Optimierungen im Promillebereich im Sinne der Mehrheit ständig weitere Einschränkungen für den Einzelnen hingenommen. Die Kosten zum Erhalt eines demokratischen Systems mit seiner Gewaltenteilung und seinen vielen Institutionen sind jedoch wesentlich höher, als die für ein über Social Credits in Kombination mit künstlicher Intelligenz gesteuertes System. Spielt nur der direkte Vergleich der Wirtschaftlichkeit eine Rolle, haben Demokratien in der digitalen Gesellschaft keine Berechtigung.
In der Vergangenheit haben Diktatoren ähnliche oder sogar höhere Kosten wie Demokratien aufbringen müssen, um ihre Macht zu erhalten. Das Social Credit System hat den Vorteil, dass es bei dem vordergründigen Diktat der Masse keinen Gegner gibt, den es zu bekämpfen lohnt. Totalitäre Staatslenker können hiermit ihre Macht ausbauen und sich wie in einer Demokratie von der Mehrheit legitimiert sehen. Ihre Interessen setzen sie hierbei durch Manipulation der Mehrheitsmeinung durch.

Die Anpassungsgeschwindigkeit eines Social Credit Systems, zum Beispiel an einen schnell auftretenden Klimawandel, ist wesentlich größer, als die in einer langsam entscheidenden Demokratie.
Ein weiterer Vorteil des Social Credit Systems ist, dass es einfach ist. Viele Menschen wollen sich nicht mit Problemen beschäftigen und lieben einfache Lösungen. Der Rechtstaat hingegen ist kompliziert. Er begünstigt zudem Know-how Träger, welche Gesetze für ihre Zwecke nutzen können.

Im konkreten Beispiel der DSGVO soll der Schutz der personenbezogenen Daten innerhalb der europäischen Union sichergestellt werden. Die DSGVO ist ein gutes Beispiel, um zu zeigen, wie die Rechtsprechung einerseits der vordigitalen Gesellschaft verhaftet bleibt und andererseits totalitäre digitale Systeme längst die Rechtsprechung konterkarieren.
Zum einen setzt die DSGVO die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen und Zustimmung zum Umfang der Datenverarbeitung voraus. Zum anderen geht die DSGVO davon aus, dass dem Einzelnen die Mittel für Datenschutz und Datensicherheit zur Verfügung stehen. Beide Voraussetzungen sind aber gerade bei der Zielgruppe der Einzelpersonen, welchen die DSGVO einen höheren Schutz bieten soll, nicht erfüllt.
Erstens besteht beim Konsumenten eine echte Entscheidungsfreiheit gerade nicht gegenüber solchen Unternehmen, welche primär durch die Gesetzgebung geregelt werden sollen. Nach dem subjektiven Eindruck des Bürgers haben viele große Unternehmen die Totalitarismusschwelle bereits überschritten. Diese definiert sich durch die Einschätzung des Konsumenten von seiner Abhängigkeit von einem Unternehmen, seinen Kosten und Möglichkeiten der Ersatzbeschaffung eines ähnliches Produktes, seiner Möglichkeit der Rückabwicklung, also zum Beispiel der Übertragbarkeit seiner Datenbeständen von einem zum anderen Anbieter und den Kosten, die er für einen Technikersatz aufbringen muss. Wer seine Studienunterlagen nur bei Facebook beziehen kann, hat keine andere Wahl, als die Datenschutzerklärung von Facebook zu akzeptieren. Facebook ist sich dieser Macht bewusst und verschärft sogar seine Datenverwertung im Rahmen der DSGVO. Mit genügend eigenen Daten versorgt, benutzt es die DSGVO als Vorwand, um die Datenhändler zu kündigen. Der Einzelne muss nun sogar die Verwendung von biometrischen Daten in Form von Gesichtserkennung akzeptieren.
Zweitens sind Datenschutz und Datensicherheit derzeit für den Einzelnen nicht mehr herstellbar. Es besteht hieran bei der aktuellen deutschen Regierung auch kein echtes Interesse. Die Analyse des Koalitionspapiers weist eher auf einen weiteren Einbau von Türen für Staatstrojaner und Ausbau der Überwachungsmaßnahmen, sowie Speicherung und Austausch von immer mehr personenbezogenen Daten hin.
Auf der Stecke bleiben werden kleine Betriebe mit fehlendem Know-how und mancher Selbständige mit von Drittanbieten eingebauten Scripts.
Sicherlich ein wenig überzeichnet, aber dem Grundsatz entsprechend, alles was vereinbart ist, ist legal, habe ich für die Trusted WEB 4.0 Seiten nun neue Datenschutzbedingungen veröffentlicht, siehe Datenschutzrichtlinien . Diese haben die berechtigte Intention, Schaden von mir fern zu halten.

Nun, die Weichen für die Zukunft sind gestellt, oder? Wer soll denn ein Interesse an einer digitalen demokratischen Gesellschaft haben? Die Antwort ist einfach: „Minderheiten“.
Im Folgenden habe ich einige Minderheiten aufgeführt. Die Liste lässt sich fast beliebig verlängern: „Kreative, Intellektuelle, Intelligente, Liberale, Künstler, Schriftsteller, Journalisten, Philosophen, Leistungssportler, Vegane, Raucher, Behinderte, Mitglieder von Religionsminderheiten, Sammler, Dieselfahrer, ethnische Minderheiten, sprachliche Minderheiten (Dialekte), sexuelle Orientierung, soziale Schichten.“ Tatsächlich kann man heute nicht wissen, welches heutige digital dokumentierte Verhalten in Zukunft bei sich verändernden Normen sanktioniert werden wird.

Für die Demokratie lässt sich argumentieren, dass die meisten großartigen Ideen, die unsere westlichen Gesellschaften historisch weitergebracht haben, von individualistischen Einzelkämpfern entwickelt und durchgesetzt wurden. Nur, ob diese Langfristperspektive bei Überlegungen, auch bei uns schon vorhandene Scorewerte zu einem Social Credit System auszubauen, Berücksichtigung finden wird, ist fraglich.

Ein umfangreicher Katalog von Maßnahmen, den ich in meinem neuen Buch „Trusted WEB 4.0 – Masterplan für eine demokratische digitale Gesellschaft“ (erscheint im Sommer bei Springer Vieweg) veröffentliche, ist nötig.
Es geht darum, alle Kräfte, auch diejenigen, die derzeit als Verlierer und Kostenverursacher der Gesellschaft gelten, für die Demokratie zu mobilisieren. Es geht darum, Vorteile und Stärken der Demokratie zu identifizieren und diese in Digitalisierungskonzepten abzubilden. Es geht um eine technische Infrastruktur als Voraussetzung für eine Digitalverfassung, in der Wähler und Politik nicht über den Umweg ausländischer Werbeplattformen zusammenfinden. Anonymität und eine wesentlich erhöhte Datensicherheit für Einzelne können durch diese Infrastruktur sichergestellt werden. Das Buch bietet viele Ansätze, die weitergedacht und mit allen Leistungsträgern unserer Gesellschaft verhandelt werden müssen.

Haben wir noch genug Zeit?

Olaf Berberich