Komplexität – Heidelberg – am nächsten Morgen, 9. Teil, Kapitel II

Als  Maya  morgens  den Rolladen  öffnete  und  frischen  besonders  starken  Kaffee  ans  Bett  brachte  sah  sie erst,  wie  ausgezehrt  Max  war.   Die  Morgensonne  beleuchtete  das Gesicht  eines  Mannes,  der  zehn  Jahre  älter  wirkte.   Mühsam  setzte  sich  Max  auf  und  zwang  sich  zu einem  Lächeln.  

„Du  bist  lieb.   So  lang  habe  ich  schon  ewig  nicht  mehr  geschlafen. “

Maya  unterdrückte  Tränen:“  Max,  wie  konnte  es nur  so weit  mit  Dir  kommen“.

„Was  meinst  Du“  tat  er  ungläubig.   „Die  Diplomarbeit  stresst  mich  halt. “

Jetzt  wurde  Maya  wütend:  “Hör  auf,  mir  was  vorzumachen.   Ich  glaube  nicht,  dass  Du  die  letzten  Wochen  an  Deiner  Diplomarbeit  gesessen  hast.   Wann  hast  Du  das  letzte  mal  richtig  gegessen?  Wann  hast  Du  das  letzte  Mal  Freunde  getroffen?  Max  hör  endlich  auf,  mich  für  dumm  zu verkaufen. “

Direkt  bereute  Maya  ihre  Heftigkeit.   Max  hatte  dem  nichts  mehr  entgegenzusetzen.   Er  sackte  in  sich  zusammen,  als  ob  ihm  plötzlich  der  Halt  seines  Skeletts  entzogen  worden  wäre  und  begann  leise  zu  wimmern.  

„Es  ist  wirklich  die  Diplomarbeit  schuld,  Maya.   Ich  habe  alles  geschafft,  alle Scheine,  weißt  Du,  in  Regelstudienzeit.

Vor  zwei  Monaten  habe  ich  dann  das Thema  beim  Prof.   durchgehabt.   Der  war  ganz  begeistert.   Beherrschbarkeit  von  Komplexitäten  in  der  globalen  Marktwirtschaft  heißt  es.  

„Ja  aber  das  ist  doch  toll.   Was  ist  denn  passiert?“

„Ja  zuerst  lief  es  auch  gut.   Das  war  das  erste  Mal,  dass  es mir  wichtig  war,  das  Optimale  hinzukriegen.   Ich  habe  mich  durch  eine  Vielzahl  von Fachbüchern  durchgearbeitet.   Das  Ganze  habe  ich  dann  mit  aktuellen  Untersuchungen  zu  den  Auswirkungen  des  Internets  verglichen. “

 „Ja,  und,  wo  ist  das  Problem?“ 

„Das  Problem  ist,  dass  es keine  Regeln  mehr  gibt.   Es  gibt  keine  verlässlichen  Vorhersagemuster.   Die  einzige  Regel,  die  für  mich  noch  gültig  ist,  große  Einheiten  haben  ein  größeres  Beharrungsvermögen,  kleinere  sind  innovativer,  setzen  sich  aber  oft  nicht  durch.   Weißt  Du,  eigentlich  hatte  ich  gehofft,  irgend  wo  eine  Antwort  zu  finden,  wie  man die  in  Zukunft  noch  komplexeren  Zusammenhänge  im  Griff  behält.   Inzwischen  bin  ich  sicher,  entweder  alles  bricht  irgendwann  zusammen  oder die  großen  Einheiten  in  Politik  und  Wirtschaft  werden  so  groß  und  mächtig,  dass  sie  alle  Individualität  und  Kreativität  der Einzelnen  ersticken  und  es  zum  totalen  Stillstand  kommt.   Weißt  Du,  ich  bin  damit  einfach  nicht  klar  gekommen.   Alle  taten  so,  als  ob  nichts  wäre.   Ich  kam  mir  immer  mehr  wie  jemand  vor,  der  hinter  Gittern  alle  anderen  beobachtet,  ohne  zu  wissen,  wer  vor  und  wer  hinter den Gittern  sitzt.  

Na,  ja  bei  der  Recherche  bin  ich  auch  über  die  ein  oder andere  Wirtschaftssimulationsspielseite  gestolpert.   Die  sind  heute  schon  so weit,  dass  man mit  einer  beliebigen  Anzahl  von Spielern  im  Internet  spielen  kann.   Der  Vorteil  ist,  die  Möglichkeiten  müssen  endlich  sein,  da  ja  die  Programmierer  die  Möglichkeiten  hinterlegt  haben. Irgendwie  konnte  ich  dann  nicht  mehr  aufhören  und  habe  alles  um  mich  herum  vergessen. “

Es  wurde  still.   Maya  dachte  an  ihr  eigenes  Studium.   Solche  Zweifel  hatte  sie  nie  gehabt.   Sie  hatte  das  gelernt,  was  zu  lernen  war.   Probleme  löste  sie  pragmatisch,  wenn  die  Lösungen  anstanden. Sie  hätte  Max  gerne  von den Plänen  des  FINDERS  –  Konsortiums  erzählt,  die ihr  in  ihrer  Funktion  als  Controllerin  immer  wieder  auf  den  Tisch  kamen.   Aber  die  waren  geheim.   „Max,  nach  meiner  Erfahrung  gibt  es  eine  Möglichkeit,  die  Komplexitäten  der  Zukunft  aufzulösen.   Man  muss  die Komplexitäten  eben  wieder  in  kleine  Einheiten  auflösen.   Weißt  Du,  genau  das  machen  wir  bei  FINDERS  mit  unseren  40. 000  Kategorien. “ „Ach,  jetzt  fängst  Du  auch  noch  an,  mich  mit  FINDERS  zu  bequatschen.   Paps  hat  das  schon  immer  gemacht.   Ich  kann  das  nicht  mehr  hören. “ „Max,  gib  endlich  zu,  dass  Du  es  in  den  letzten  Monaten  übertrieben  hast.   Du  bist  spielsüchtig  geworden.   Mit  FINDERS  hätte  das  verhindert  werden  können. “

„Meinst  Du  etwa  diesen  Spielfilter.   Ich  mag  keine  Zensur. “

„Der  Spielfilter  ist  keine  Zensur,  Max.   FINDERS  hat  da  viel  Geld  reingesteckt  und  er funktioniert. “  

Mittags  hatte  Maya  Max  soweit,  dass  dieser  seinem  Provider  eine  Mail  schickte  mit  der  Bitte,  den  Spielfilter  einzurichten.  

2005  hatte  FINDERS  in  Zusammenarbeit  der  Bildungs  und  Forschungskategorien – Agenturen  wie  z. B.   Mathematik  mit  den  Spielkategorien – Agenturen  den  Spielfilter  entwickelt.   Eine  Registrierung  war  inzwischen  bei  jedem  Provider  möglich.   Man  hinterlegte  seinen  Schul–  und  Berufsabschluss.   Hatte  man 45  Minuten  ein  Spiel  gespielt,  musste  man 15  Minuten  in  einem  der Ausbildung  adäquaten  Bildungsbereich  Aufgaben  lösen.   Erst  dann  wurden  die  Spiele  wieder  für  weitere  45  Minuten  freigeschaltet.

Da  die  Spielsucht  sich  in  Deutschland  immer  mehr  ausbreitete,  gab  es  auch  immer  mehr  Spielsüchtige,  die  sich  den  Filter  freiwillig  einrichteten,  nachdem  sie  eingesehen  hatten,  dass  es  so  nicht  weiterging.   Forschungen  hatten  ergeben,  Süchtige  verloren  beim  Spielen  jegliches  Zeitgefühl  und  jeglichen  Bezug  zu  ihrer  Umgebung.   Wenn  sie regelmäßig  zu  Unterbrechungen  gezwungen  wurden,  kehrte  bei  den  meisten  mit  der  Zeit  der  Realitätsbezug  zurück. Um  ehrlich  zu sein,  FINDERS  hatte  nicht  etwa  eine  soziale  Ader  entdeckt.   Vielmehr  standen  hier  hinter  wirtschaftliche  Interessen.   Der  Druck  kam  von  den  Kategorien – Agenturen  aus  dem  Forschungsbereich,  die  wesentlich  weniger  verdienten,  als  Agenturen  in  anderen  Bereichen.   Durch  den  Filter  wurde  ein  Viertel  der Einnahmen  von  den  Spielagenturen  an  die  Bildungsagenturen  weitergeleitet.   Außerdem  hatte  FINDERS  untersuchen  lassen,  dass  der  Konsum  bei  Spielsüchtigen  dramatisch  zurückging  und  damit  auch  die  Einnahmen  von  FINDERS.   Die  Quersubvention  rechnete  sich.  

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