Von der Kohle zum Internet – Frankreich – September 2006, 1. Teil, Kapitel I

Es  war  kalt,  die Windturbine  rappelte  laut  –  kein  Grund  aufzustehen.   Ich  räkelte  mich  unter  der  dicken  warmen  Decke.   Der  Platz  in  dem  Doppelbett  neben  mir  war  leer.   Einer  der  wenigen  Nachteile  unseres  neuen  Lebens  war,  dass  Brigitte  und  ich  zeitversetzt  arbeiten  mussten.   Brigitte  war  sicher  schon  am  Computer  und  bearbeitete  neue  Scoutanfragen.  Mein  Blick  schweifte  über  die  Mahagonitäfelung  der  Kapitänskajüte  des  alten  Kohlefrachters.   Eigentlich  war  der  Begriff  Kapitänskajüte  nicht  ganz  korrekt.   Als  der  1929  gebaute  Frachter  noch  in  Betrieb  war,  fungierte  dieser  Deckaufbau,  der  nur  von  dem  dahinterliegenden  Führerhaus  überragt  wurde,  als  Küche  und  Aufenthaltsraum.   Erst  nachdem  wir  2003  den  Frachter  für  wenig  Geld  gekauft  und  umgebaut  hatten,  wurde  dieser  Raum  unser  Schlafzimmer.   Ich  erinnere  mich  noch  gut  daran,  wie  viel  Arbeit  es  war,  in  dem   Teil,  in  welchem  der  Küchenblock  stand,  das  Holz  von  Ruß  zu  entfernen  und  optisch  den  anderen  Seiten  anzugleichen.   Das  Ergebnis  konnte  sich  sehen  lassen.   Mein  Blick  schweifte  weiter  zu  der  Luke  über  einer  kleinen  Stufe  in  das Führerhaus.   Rechts  und  links  ging  eine  Tür  ins  Freie.   In  der  Mitte  stand  ein  halbhoher  Kasten,  dessen  Deckel  aufgeklappt  war.   Auch  die  vorderen  Flügeltüren  waren  nicht  verschlossen. Heute  war  der  28. September  2006.   Der  Tag  an  dem  Brigitte  offiziell  eine  Entscheidung  treffen  musste,  ob  sie endgültig  ihr  Leben  ändern  wollte.   Brigitte  war  7  Jahre  jünger  als  ich  und  Lehrerin  für  Deutsch  und  Mathematik.   Sie  hatte  sich  vor  fast  einem  Jahr  eine  Auszeit  vom  Lehrerberuf  genommen,  weil  ich  sie gebeten  hatte,  mich  in  meiner  Kategorienagentur  als  Kategorienmanager  zu  unterstützen.   Eigentlich  war  Brigitte  die  Art  mütterlicheTyp,  bei  dem  man sich  einen  Lehrerberuf  gut  vorstellen  konnte.   Auch  hatte  sie  keine  Autoritätsprobleme.   Ihre  Schüler   behandelten  Sie  mit  Respekt.  

Trotzdem  fiel  es mir  nicht  schwer,  sie  von  dem  Sabbatjahr  zu  überzeugen.   Nach  über  20  JahreLehrerdasein  war  sie  es  einfach  müde,  immer  wieder  den  gleichen  Stoff  zu vermitteln.   Und  obwohl  sich  durch  die  Agenda  2005  mit  R-Fax  und  strukturiertem  Internet  für alle Deutschen  in  den  letzten  Jahren  immense  Veränderungen  im Arbeitsalltag  genauso  wie  im  Privatleben  ergeben  hatten,  schien  die  Zeit  in  der  Schule  stehen  geblieben  zu  sein.   Die  Lehrpläne  selbst  der  Gymnasien  gingen  nur  im  Wahlpflichtfach  Informatik  ansatzweise  auf  die  ungeheuren  Herausforderungen  ein,  welche  nun  im zweiten  Schritt  Deutschland  bei  der Agenda  2010  mit  dem  Ziel  der  Weltmarktführerschaft  im  Onlinehandel  bevor  standen.

Obwohl  ich  hoffte,  dass  Brigitte  keine  Zweifel  mehr  hatte,  heute  dem  Schulrat  ihre  endgültige  Kündigung  zuzuschicken,  hatte  ich  mir  fest  vorgenommen,  das Thema  nicht  anzusprechen  und  sie  nicht  zu  beeinflussen.   Es  gab  also  einen  weiteren  Grund,  im  Bett  zu  bleiben  und  eine  gute  Gelegenheit,  meine  eigene  Entscheidung  vor  4  Jahren  zu  überdenken.  

Ja  4  Jahre  war  es  erst  her,  dass  ich  jeden  Tag  als  Briefträger  in  Karlsruhe  mit  dem Fahrrad  die  Post  ausgetragen  habe.   Ich  dachte,  dass  ich  diese  Aufgabe  bis  zur  Rente  wohl  durchhalten  würde,  obwohl  mir  insbesondere  die  Kälte  im Winter  immer  mehr  zusetzte.   Spaß  machte  es mir,  dass  ich  nach  und  nach  alle Leute  in  meinem  Stadtbezirk  kannte  und  alle  mich  grüßten.   Auch  die  kleinen  Episoden  ließen  mir  den  Alltag  nie  langweilig  werden.   Einmal  war  es der spontane  Kuss  einer  alten  Frau,  welche  nach  langen  Jahren  erstmals  einen  Brief  von  ihrer  im  Ausland  lebenden  Tochter  erhielt,  ein  anderes  Mal  war  es ein  Liebesbrief  an  einen  Schüler,  den  dieser  heiß  ersehnte  und  im  kalten  Winter  zwei  Stunden  im  Kelleraufgang  wartete,  um  den  Brief  vor  seinen  Eltern  abzufangen.  

Das  Frühjahr  2002  war  eine  meiner schlimmsten  aber  im nachhinein  auch  meine  aufregenste  Zeit.   Damals  hatte  die  Postgewerkschaft  zum  Streik  aufgerufen  und  über  60%  der  nicht  beamteten  Bediensteten  waren  diesem  Aufruf  gefolgt.   Mein  Leben  war  bis  dahin  ohne  große  Höhen  und  Tiefen  verlaufen.   Realschule  mit  mittelmäßigem  Abschluss,  dann  Lehre  bei  der  Post.   Postbeamte,  das  waren  wird  Friederichs  nun  in  der dritten  Generation.   Da  lernt  man schon  vom  Vater  eine  bestimmte  Art  der Auftretens,  welche  einem  im  späteren  Beruf  die Arbeit  erheblich  erleichtert.   Eine  Mischung  aus  Respektsperson  und  Fürsorger,  der  immer  ein  offenes  Ohr  für die Menschen  hat,  jedoch  nie  die  Distanz  verliert  und  auch  in  der Lage  ist,  das  Einschreiben  zur  Räumungsklage  zuzustellen. Mit  25  hatte  ich  Brigitte  –  damals  noch  im  Studium  kennengelernt  und  wir  waren  beide  nach  einigen  sehr  unerfreulichen  Beziehungsversuchen  froh,  einen  verlässlichen  Partner  gefunden  zu  haben.   Unser  gemeinsames  Gehalt  und  die  doppelte  Verbeamtung  ermöglichten  es  uns,  ein  kleines  Häuschen  am  Karlsruher  Stadtrand  zu  kaufen.   Ich  träumte  immer  davon,  endlich  in  Rente  mit  einem  kleinen  Segelboot  um  die  Welt  zu  segeln.   Brigitte  teilte  meine  Leidenschaft  fürs  Wasser,  mit  mir  permanent  auf  engstem  Raum  ohne  weitere  Beschäftigung  außer  herumzureisen  zusammenzusitzen,  konnte  sie  sich  jedoch  nicht  vorstellen.  

Nun  ist  es  also  ein  altes  Kohleschiff  mit  immerhin  stattlichen  33  Metern  Länge  und  5  Metern  Breite  geworden,  von  vorne  bis  hinten  überbaut  –immerhin.   Und  über  Beschäftigung  können wir uns  als Kategorienmanager  nun  wirklich  nicht  beklagen. Ja  fast  wäre  ich  2002  mit  gerade  mal  45  Jahren  schon  Rentner  geworden.   Genau  das  war  nämlich  das  Angebot  an  die  verbeamteten  Postler,  Frühverrentung  wegen  Wegfall  des  Arbeitsplatzes  oder Starthilfe  und  Umschulung  zum  Kategorienmanager,  mit  der  Chance  eine  der  40. 000  Lizenzen  als als  Kategorienagentur  zu  erhalten.   Wie  alles  angefangen  hat?  Was  bekomme  ich  denn  spontan  zusammen?

Zu  dieser  Zeit  überredete  der  Bürgermeister  von Friedrichshafen  Herrn  Kaminski,  den Geschäftführer  eines  kleinen  Hamburger  Providers,  als  Initiator  für  ein  neu  gebautes  Technologiezentrum  zu  fungieren.   Eine  GmbH  wurde  gegründet.   Kaminski  brachte  sein  Know  How  und  Mitarbeiter  ein,  welche  sich  schon  seit  einiger  Zeit  mit  einer  speziellen  Zugangssoftware  zum  Internet  beschäftigten.   Ungefähr  zu  dieser  Zeit  kam  aus  den USA  nach  Yahoo  auch  Google  nach  Deutschland  und  eroberten  in  Windeseile  Marktanteile.   Im  Jahr  2000  dann  sah  es so aus,  dass  viele  der deutschen  Start  Ups,  die  in  oft  übereilt  fertig  gestellten  Businessplänen  die definierten  Erwartungen  nicht  erfüllen  konnten.   Einen  vorläufigen  Höhepunkt  der  Rückschläge  bildete  der  Übernahmeversuch  von  Mannesmann  durch  Vodafone  im Februar.  

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Durch  die  guten  Kontakte  von  Herrn  Kaminski  zudem Management  von  Mannesmann  –Einzelheiten  sind  ,  obwohl  diese  Ereignisse  ausführlich  in  der  Presse  diskutiert  wurden  bis  heute  nicht  bekannt  –  wurde  wohl  ein  Rettungsplan  geschmiedet.   Der  damalige  Bürgermeister  von Friedrichshafen    der Name  fällt  mir  nicht  ein    nutzte  seinerseits  seine  guten  Kontakte  zum  Bundeskanzler  und  der  gab  zahlreiche  Studien  in  Auftrag.   Das  Ergebnis  war  die  Agenda  2005.   Kaffeeduft  stieg  mir  in  die Nase.   Das  war  immer  ein  untrügliches  Zeichen,  dass  Brigitte  nun  mit  meinem  Auftauchen  rechnete.   9. 00  Uhr  sah  ich  auf  meinem  Handy,  welches  ich  wie  fast  jeder  immer  bei  mir  hatte,  heute  wichtiger  und  universeller  einsetzbar  als  jedes  Portmonee. Ich  räkelte  mich  noch  einmal  und  sprang  aus  dem  Bett.   Dann  zog  ich  die  Vorhänge  zurück.   Die  Kapitänskajüte  hatte  an  allen  drei  Seiten  Fenster.   Das  Boot  war  am  Ufer  der  Rhône  festgemacht.   Über  den  Feldern  lag  noch  immer  Nebel.   Die  Sonne  kämpfte  sich  nur  gelegentlich  durch  die  Wolken.   „Es  wird  Herbst“  dachte  ich. An  der  vierten  Seite  der Kajüte  näherte  ich  mich  dem  Kasten.   Darunter  führte  eine  steile  breite  Leiter  ins  Dunkel.   Immer  noch  liebte  ich  diesen  Weg  durchs  Schiff  und  fühlte  mich  nach  1929  zurückversetzt,  wenn  ich  diese  Leiter  herunterstieg.   Wie  immer,  verzichtete  ich  darauf,  das  Licht  anzumachen  und  wartete,  bis  sich  meine  Augen  an  das  Halbdunkel  dieses  Raumes  gewöhnt  hatten.   Auch  der  unter  der  Kapitänskajüte  liegende  Raum  war  komplett  mit  Mahagoni  verkleidet.   Jedoch  waren  hier  die  Schreinerarbeiten  noch  wesentlich  aufwendiger  ausgeführt.   Die  Heckseite  wurde  von  einem  schönen  alten  Ganzkörperspiegel  verziert,  auf  den  indirektes  Sonnenlicht  von  einem  kleinen  Dachfenster  fiel,  welches  sich  von  außen  fast  unsichtbar  unter  dem Führerhaus  versteckte.   Auf  der  dritten  Seite  gab  es  nur  zwei  aufwendig  gestaltete  Türen.    

Im  oberen  Teil  der  Türen  waren  zwei  mit  gefrästen  Blumenmustern  verzierte  Gläser  eingesetzt.   Dahinter  befanden  sich  früher  zwei  1,50  m  mal  1,5m  großen  Schlafräume.   Wir  nutzen  beide  Räume  nun  als  zusätzlichen  Stauraum.   Schon  interessant,  mit  wie  wenig  Platz  man früher  auskam.   Die  Räume  bestanden  jeweils  aus  einem  Bett.   Unter  dem  Bett  ließen  sich  über  die  gesamte  Breite  zwei  Türen  öffnen.   Hier  schliefen  die  Kinder.   Dies  war  der  gesamte  Platz,  welcher  bis  1970  den  Fuhrleuten  zur  Verfügung  stand.   Erst  später  wurde  vom  Vorbesitzer  der  dahinterliegende  offene  Frachtraum  überbaut.  

Auf  der Vorderseite  des  Schrank  Wohnraumes  zeugten  eine  Metallplatte  und  eine  Marmorumrahmung  davon,  dass  hier  einmal  ein  offener  Kamin  direkt  unter  dem Küchenofen  für  Wärme  gesorgt  hatte.   Heute  stand  anstelle  des  Kamins  ein  inzwischen  auch  schon  antiker  schmiedeeiserner  Heizkörper.  

Nachdem  ich  mich  angezogen  hatte,  wendete  ich  mich  den  letzten  beiden  Schranktüren  auf  der  Steuerbordseite  zu.   Anstelle  des  alten  Schrankraums  begann  hier  der  sehr  schmale  nur  1,70  m  hohe  Gang  zum  vorderen  2.30  m  hohen  und  modern  ausgebauten  Bereich.   Hier  forderte  die  ursprüngliche  Bauart  des  Frachtschiffes  sein  Tribut.   An  den  alten  Wohnbereich  der  Fahrleute  war  direkt  der  nur  von  außen  zu  erreichende  Maschinenraum  mit  dem  400  PS  Diesel  angebaut.   Dieser  komplett  umschlossene  Raum  war  nur  durch  diesen  schmalen  Gang  zu  erreichen. „Kompost“  hörte  ich  Brigitte  fluchen  und  sofort  machte  sich  bei  mir  ein  schlechtes  Gewissen  breit.   Fast  alles  hatten  wir  mit  diesem  Schiffskauf  richtig  gemacht.   Auf  viele  Dinge  war  ich  richtig  stolz,  wie  z. B.   die  weitgehende  Autarkie  des  Bootes.   Strom  wurde  über  das  Windrad  oder die  Sonnenkollektoren  erzeugt.   Heißwasser  durch  den  Wärmetauscher.  

Aber  die  Komposttoilette  war  eindeutig  eine  Fehlentscheidung  gewesen.   Die  eigens  aus  Schweden  importierte  Toilette  Marke  Separett  bestand  aus  zwei  Abteilungen.   Im  vorderen  Bereich  sollte  das  kleine  Geschäft  ablaufen,  während  im  hinteren  Bereich  das  große  Geschäft  zielgenau  in  ein  Loch  treffen  sollte.   Setzte  mansich  auf  die  Klobrille,  so  schob  sich  über  dem  Loch  ein  Deckel  zur  Seite.   Erstaunlich  war,  dass  der zukünftige  Kompost  wie  vom  Hersteller  der  Toilette  garantiert,  nicht  stank,  wenn man optimalerweise  eine  Tasse  Stroh  nach  seinem  Geschäft  hinterher  kippte  und  keine  weitere  Flüssigkeit  den hinteren  Bereich  erreichte.   Tatsächlich  gab  es  im  Alltag  jedoch  zahlreiche  Hürden  zu  überwinden,  welche  wir vorher  vonder klassischen  Toilette  nicht  kannten.   An  welcher  Hürde  Brigitte  nun  gerade  gescheitert  war,  würde  ich  sicher  nicht  nachfragen.

Ich  ging  also  den  langen  Gang  am  unsichtbaren  Maschinenraum,  der  Klotür,  der  Badezimmertür  und  dem  ebenfalls  unsichtbaren  4000  Liter  Wassertank  vorbei  und  kam  in  der komplett  mit  hellem  Holz  verkleideten  Schiffsmesse  an.   Ich  ging  nach  Steuerbord  vorbei  an  der  Sambatreppe  welche  zu  dem  mittschiffs  liegenden  Außensitzbereich  führte.  

Fortsetzung folgt in einer Woche. 

Hier ist Platz für Ihren eigenen Handlungsstrang. Gibt es 2006 weitere Ereignisse, die Sie in den Alltag der Frederichs einbauen wollen?

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