Die Einwandererin – Dhunikolhu, Malediven – Oktober 2003, 1.Teil, Kapitel II

Shaona  Magu  besuchte  zum  letzten  Mal  ihre  Eltern  in  Dhunikolhu,  bevor  sie  die  elfstündige  Reise  nach  Deutschland  antrat.   Sie  konnte  schon  verstehen,  warum  so viele  Deutsche  hier  Urlaub  machten.   Die  5  Sterne  Urlaubsinsel  verfügte  über  alles,  was  Zivilisation  brauchte. Sie  war  im Verhältnis  zu anderen  Einheimischen  in  luxuriösen  Verhältnissen  aufgewachsen.   Da  beide  Eltern  im  Service  der  Luxusferieninsel  arbeiteten,  stand  ihnen  für  die  vierköpfige  Familie  ein  großes  Apartment  mit  Kochecke  und  ein  Bad  mit  fließend  warmem  Wasser  zur  Verfügung.   Die  Menschen  lebten  dicht  neben  einander  auf  völlig  unterschiedlicher  technischer  Entwicklungsstufe.

Die  Magus  hatten  das  Tor  zur  Welt.   So  nannten  sie  das  Fernsehen.   Wie oft  hatte  Shaona  als  Kind  in  den  Zeiten,  in  denen  ihre  Eltern  arbeiten  mussten,  die  geheimnisvolle  fremde  Welt  gesehen.   Über  Satellit  bekamen  sie auch  deutsches  Fernsehen.   Hier  lernte  sie  ihre  ersten  deutschen  Worte.

Oft  fuhr  sie  mit  ihren Eltern auf dem Boot  nur  zwei  Inseln  weiter  zu  den  Großeltern.   Die  meisten  auf  der  Insel  ernährten  sich  wie  vor  hundert  Jahren  vom  Fischfang.   Eine  zusätzliche  Einnahmequelle  hatten  sie  durch  die  Herstellung  von  Muschelschmuck  und  einfachen  Tonarbeiten.

Die  Regierung  in  Male  war  weit  weg.   Fast  alles  regelte  man auf  der  Insel  mit  100  Einwohnern  selbst.   Jeder  kannte  jeden.   Man  schlief  in  einfachen  Hütten.   Die  Großeltern  galten  als wohlhabend,  weil  sie  einen  Raum  aus  Steinen  hatten  und  zwei  Hühner.   Er  gab  auf  der  ganzen  Insel  weder  Radio  noch  Fernsehen,  noch  eine  Zeitung.

Nur  einmal,  als Großvater  sehr  krank  war,  da  hatte  ihn  ein  Schnellboot  nach  Male  ins  Krankenhaus  gebracht.   Viele  Monate  danach  war  er  äußerst  verwirrt  gewesen.   50  Jahre  hatte  er  die  Insel  nicht  verlassen.   Was  er  in  Male  sah,  verstand  er  nicht.   Nicht  verarbeitete  Bilder  schwirrten  ihm  immer  wieder  im Kopf  herum  und  ließen  ihn  gar  den täglichen  Fischfang  vergessen.  

Die  Deutschen,  mit  denen  Shaona  sich  so  oft  wie  möglich  unterhielt,  um  ihre  Deutschkenntnisse  zu  verbessern,  konnten  gar  nicht  versehen,  wieso  sie  so  gespannt  auf  schlechtes  Wetter,  Schnee  und  Eis  war.   In  New  Dheli  hatte  sie  den  Batchalor  in  economics  mit  einer  durchschnittlichen  Note  abgeschlossen.   Nie  hätte  sie  sich  träumen  lassen,  aus  Deutschland  eine  Greencard  zuerhalten.   Seit  2002  gab  es  in  Deutschland  fast  Vollbeschäftigung.   Aus  Deutschland  waren  extra  Jobwerber  angereist,  um  jeden,  der  Deutsch  konnte  und  Akademiker  war,  anzuwerben.   Nun  hatte  Magu  ausgerechnet  dadurch  einen  Vorteil,  dass  sie  am  entlegensten  Fleckchen  der  Welt  mitten  unter  Deutschen  groß  geworden  war.   In  Deutschland  sollte  sie  in  der  englischen  Semantikredaktion  des  FINDERS  Konsortiums  arbeiten.   Man  erklärte  ihre  Arbeit  so:  „Sie  werden die  Sprache  so  zerlegen,  wie  sie  Fisch  zerlegen.   Die  Gräten  in  die  eine  Tonne  und  die  guten  Fischstücke  in  eine  andere“.

Richtig  verstanden  hatte  sie  es  nicht.   Aber  das  Gehalt  war  traumhaft,  richtig,  als  wäre  sie  eine  echte  Deutsche.   Nur  ein  Bruchteil  davon  würde reichen,  dass  ihre  Eltern  auf  Dhunikolhu  wie  Könige  leben  würden.   Für  ihre  Studiengebühren  hatten  Mutter  und  Vater  schwer  arbeiten  müssen.   Über  eins  war  sich  Shaona  jedoch  sicher.   Sie  würde in  ihrem  ganzen  Leben  nicht  mehr  so  viele  Fische  sehen,  wie  in  ihrer  Jugend.  

Die  Korallenriffe  würde sie  vermissen.      

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