Der Onlinespieler – Heidelberg –September 2006, 8. Teil, Kapitel II

Maya  war  besorgt.   Sie  hatte  jetzt  schon  mehrere  Tage  versucht,  ihren  Bruder  Max  zu erreichen.   Nie  ging  der ans  Telefon. Irgendwie  hatte  sie  sich  immer  für  ihren  kleinen  Bruder  verantwortlich  gefühlt.

Maya  Frederichs  hatte  eine  unbeschwerte  Jugend.   Als  Tochter  einer  Lehrerin  und  eines  Postbeamten  war  für  sie  eine  Beamtenkarriere  nicht  erstrebenswert.   Heute  kam  ihr  in  den  Sinn,  dass  es  wohl  gerade  die Sicherheit  der  heilen  Welt  ihrer  Jugend  gewesen  war,  welche  es  ihr  ermöglicht  hatte,  die  Ruhe  und  das Selbstbewusstsein  zu  entwickeln,  um  in  ihrem  Leben  etwas  zu  riskieren.

 Als  ihre  Eltern  den  radikalen  Wandel  in  ihrem  Leben  vornahmen,  hatte  sie  bereit  3  Jahre  Betriebswirtschaftslehre  studiert  und  befand  sich  weit  weg  in  Peking  in  einem  Praktikum.

Für  Max  muss  damals  eine  Welt  zusammengestürzt  sein.   Er  befand  sich  mitten  im  Abitur.   Ehrgeiz  war  nicht  seine  Stärke.   Auf  Grund  seiner  aufgeschlossenen  Art  hatte  er  einen  großen  Freundeskreis.   Er  hatte  immer  geglaubt,  von  der  Familientradition  bestimmt  zu sein,  Briefträger  zu  werden.   Er  fand  es  gut  so.   Denn  diese  Arbeit  war  überschaubar  und  würde ihn  nicht  an  dem  hindern,  was  er  sich  unter  seinem  Leben  vorstellte.   Das  Abitur  hatte  er  nur  gemacht,  weil  es  ihm  in  den  Schoß  gefallen  war.   Gebüffelt  hatte  er  nie. So  hatten  ihre  Eltern  auch  nie  einen  Grund,  sich  um  ihren  Bruder  zu sorgen.  

Später  waren  sie dann  voll  mit  dem Aufbau  der Kategorienagentur  beschäftigt.   Maya  war  die  einzige,  die  sah,  wie  orientierungslos  Max  anschließend  war.   Um  nicht  den  regelmäßigen  monatlichen  Scheck  seiner  Eltern  zu  gefährden,  meldete  Max  sich  2001  in  Heidelberg  zum  Studium  der  Wirtschaftswissenschaften  an. Vielleicht  war  Max  ja  so mit  seiner  Diplomarbeit  beschäftigt,  dass  er nicht  ans  Telefon  ging,  versuchte  Maya  sich  zu beruhigen.   Doch  dann  erinnerte  sie  sich  wieder  an  ihren  letzten  Besuch  bei  Max.   Sie  hatte  das  Gefühl,  dass  er  kaum  mehr  aus  seiner  Studentenbude  herauskam.  

Früher  hatte  er  ihr  immer  alles  über  seine  Freunde  erzählt.   In  einer  gewissen  Weise  stand  er  ihr  näher  als  ihr  Freund.   Mit  ihm  konnte  sie  alles  besprechen.   Aber  beim  letzten  Besuch  schien  Max  wie  ausgewechselt.   Er  sah  aus,  als habe  er in  der letzten  Zeit  nicht  viel  geschlafen.   Was  sie  am  meisten  beunruhigte,  er antwortete  auf  alle ihre  Fragen  nach  seinen  Freuden  und  der aktuellen  Freundin  nur  ausweichend.   Sie  erfuhr  nichts. 

Wieder  wählte  Maya  seine  Nummer.   Ganz,  ganz  leise  meldete  er sich  mit  einer  Stimme,  die dem Ärger  über  die Störung  Ausdruck  verleihen  wollte,  der aber  die  Kraft  hierzu  fehlte.

„Max,  warum  meldest  Du  Dich  denn nicht.   Ich  habe  mir  solche  Sorgen  gemacht. “

 „Maya?“  fragte  er,  als  hätten  er  seit  zehn  Jahre  nichts  von  ihr  gehört.

„Hast  du jemand  anders  erwartet?“  wollte  Maya  ihn  necken. Aber  Max  hatte  wohl  jeglichen  Humor  verloren.

„Was  willst  Du  denn?“

„Na,  ich  will  wissen,  wie  es Dir  geht,  Du  Dummkopf“. Spätestens  jetzt  hätte  er  schon  aus  alter  Gewohnheit  heftig  über  sie herfallen  müssen.   Er  hatte  sich  immer  fürchterlich  aufgeregt,  wenn er irgend  etwas  schlechter  konnte  als seine  drei  Jahre  ältere  Schwester  und  sie  ihn  damit  neckte.  

„Ich  bin  ziemlich  im  Stress“.

„Wegen  deiner  Diplomarbeit?“

 „He,  ach  so  ne,  das  ist  im  Moment  nicht  so  wichtig.   Sag  mal,  was  für ein  Tag  ist  denn  heute?“  

Nun  konnte  Maya  ihre  Sorge  in  der Stimme  nicht  mehr  unterdrücken:  „Max,  ich  will  jetzt  sofort  wissen,  was  los  ist.   Warum  bist  Du  so  verändert?  Warum  weißt  Du  nicht,  was  für  ein  Wochentag  ist?“

„  Schwesterchen,  sein  nicht  böse,  aber  ich  muss  jetzt  wieder,  die anderen  mögen  es nicht,  wenn ich  so lange  wegbleibe. “  Max  legte  einfach  auf.   Maya  war  fassungslos.   Dann  stiegt  Panik  in  ihr  hoch.   Sie  rieft  ihre  Sekretärin  an:“  Bitte  sag  alle  Termin  in  der  nächsten  Woche  ab“.   Sie  stiegt  sofort  in  ihr  Auto  und  fuhr  die  Strecke  von  Hamburg  nach  Heidelberg  durch.

An  seiner  Wohnungstür  klingelte  sie  Sturm.   Max  Studentenbude  lag  mitten  in  der  Stadt  in  der  Nähe  der  Schlossruine.   Die  Dachgeschosswohnung  befand  sich  im  4  Stock.   Als  er  auf  das  Klingeln  nicht  reagierte,  war  sie  kurz  davor,  die  Polizei  anzurufen.   Eine  alte  Dame  öffnete  die  Tür  und  schob  ihren  Rollator  auf  die Straße.   Die  Seniorin  war  so  auf  den  vor  ihr  liegenden  weiten  Weg  bis  zum  Bäcker  an  der  Ecke  konzentriert,  dass  Maya  unbemerkt  an  ihr  vorbei  die  Treppe  hoch  stürmen  konnte.   Die  Tür  zu  Max  Dachgeschosswohnung  war  nur  angelehnt.   Maya  hatte  sich  auf  ihrer  Fahrt  alles  mögliche  vorgestellt.   Dass  hier  Max  alleine  vor  dem  Computer  saß,  gehörte  nicht  dazu.

„Max“  rüttelte  Maya  an  ihm. Er  war  kein  bisschen  überrascht,  über  ihr  unerwartetes  Auftauchen.   “Ach  Du,  Schwesterchen,  warte,  ich  muss  das gerade  noch  fertig  machen“.

Maya  versuchte  sich  zu  beruhigen.   Sie  fand  sich  hysterisch,  was  hatte  sie  sich  nur  alles  eingeredet.

Sie  setzte  sich  auf  eine  Couch,  von der sie einen  guten  Blick  auf  den  Computerbildschirm  hatte.   Wahrscheinlich  recherchierte  Max  nur  für seine  Diplomarbeit .   Doch  dazu  passte  nicht  die  Geschwindigkeit,  mit  der  Max  in  die Tastatur  hackte.

Sie  sah  sich  den Bildschirm  genauer  an.   Im  Internetbrowser  war  so  etwas  wie  eine  Kommandozentrale  zu  sehen.   Es  gab  mehrere  simulierte  Bildschirme,  in  denen  Avatare  mit  darunter  liegenden  Texten  angezeigt  wurden.   Max  schien  mit  den Avataren  zu kommunizieren.

Maya  schaute  dem  Spielen  von  Max  eine  Stunde  zu,  ohne  dass  Max  sich  auch  nur  ein  einziges  Mal  zu ihr  umgedrehte.   Dann  wurde  es  ihr  zu  bunt:“  Max,  Du  machst  jetzt  eine  Pause,  jetzt. “ 

 „Aber. “ 

 „Kein  Aber,  Du  hörst  jetzt  auf. “

 „Aber  die  anderen  meinen,  dass  wir  uns  jetzt  keine  Pause  leisten  können,  sonst  schafft  unsere  Gruppe  das  Level  nicht  rechtzeitig“.    

Maya,  die  sich  noch  nie  mit  Onlinespielen  auseinandergesetzt  hatte,  machte  jetzt  einen  schweren  Fehler:  „Wer  sagt  was?  Meinst  Du  etwa  deine  Spielfiguren?“

 „Spielfiguren?  In  welchem  Zeitalter  lebst  Du  denn,  Maya?  Alle  sind  so  echt  wie  ich.   Die  Avatare  sind  doch  nur  ein  grafisches  Hilfsmittel  um  die  Persönlichkeit,  die  sich  der  einzelne  ausgesucht  hat,  darzustellen.   Was,  ja  natürlich. “ Die  letzten  Worte  sprach  er  schon  in  Richtung  Bildschirm  und  begann  wieder  in  irrsinniger  Geschwindigkeit  seine  Tastatur  zu  foltern.

Nach  mehreren  weiteren  vergeblichen  Versuchen,  noch  einmal  zu Max  durchzudringen,  zuckte  Maya  die Achseln  und  ging  erst  einmal  in  die Küche,  um  einen  starken  Kaffee  und  ein  kräftiges  Essen  zu  machen.   Der  Inhalt  des  Kühlschranks  stellte  sie  in  keiner  Weise  zufrieden.   Ohne  den  Versuch,  Max  zu informieren,  nahm  sie  den  Wohnungsschlüssel  und  ging  das  Nötigste  einkaufen.

Zwei  Stunden  später  waren  zehn  Speckpfannekuchen  fertig.   Max  Lieblingsessen. Seinen  Kaffee  hatte  Max  nicht  angerührt.   Unbeirrt  schüttete  Maya  den  Kaffee  weg  und  machte  einen  neuen. Sie  stellte  Kaffee  und  Speckpfannekuchen  auf  den  Tisch  und  sagte  sehr  deutlich:  “Max,  kommst  Du  jetzt  zum  Essen?“

 „Mh,  gleich“.      

Maya  wartete  noch  eine  viertel  Stunde.   Das  Essen  war  schon  fast  kalt.   Dann  zog  Sie  den Stromstecker  aus  dem  Router.   Plötzlich  wurde  Max  ganz  hektisch  und  begann  zu  heulen:  “Warum  antworten  die  anderen  denn  nicht  mehr?  So  kurz  vor  dem  nächsten  Level?“

„Max,  Du  isst  jetzt.   Ich  haben  den Stecker  aus  dem Router  gezogen. “

„Was  hast  Du?“  so  wütend  hatte  Sie  Ihren  Bruder  noch  nie  erlebt. Sie  bekam  richtig  Angst,  als  er  von  seinem  Stuhl  aufsprang.   Er  wollte  Richtung  Router  laufen.   Doch  kaum  stand  er,  da  wurde  er  weiß  wie  eine  Wand  und  klappte  zusammen.  Er  merkte  nicht,  wie  Maya  ihn  auffing  und  all  ihre  Kraft  aufbrachte  um  ihn  auf  sein  Bett  zu  legen.   Er  wehrte  sich  nicht  mehr,  als  sie  ihm  den  Kaffee  und  das Essen  einflößte.   Trotz  Kaffee  fiel  er anschließend  in  einen  traumlosen  tiefen  Schlaf  und  wachte  erst  am  nächsten  Morgen  wieder  auf.  

 

 

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