Am Ende und am Anfang – Pagera, Mallorca – März 2003, 6.Teil, Kapitel I

Professor  Liebetreu  saß  auf  der  Terrasse  seines  kleinen  Häuschens.   Endlich  Ruhe,  nichts  und  niemanden  mehr  sehen.   Nichts  mehr  denken  und  vor  allem  nicht  mehr  erinnern  –  für  die  Pension.

Letzte  Woche  noch,  da  saß  Liebetreu  im  Landgericht  einer  deutschen  Kreisstadt.   Den  Namen  durfte  er nicht  einmal  denken. Es  war  haarscharf  gewesen,  dann  hätte  er  seine  Pension  verloren.   Wofür? 

Es  war  genauso  dumm  wie  gutmütig  gewesen.   Er  hatte  wirklich  geglaubt,  dass  es  so  etwas  wie  Fairness  im  Geschäftsleben  gibt.   1998  hatte  er  Christian  Wolff  nach  einer  linguistischen  Vorlesung  kennen  gelernt.   Wolff  war  ihm  zunächst  wegen  seiner  äußerst  unterwürfigen  Haltung  unsympathisch  gewesen.

 „  Herr  Professor  Liebetreu,  also  entschuldigen  sie,  also  ich  möchte  wirklich  nicht  stören. “

„Ja,  nun. “ 

„Ich  habe  mich  mit  einer  Sache  beschäftigt,  die mich  nicht  in  Ruhe  lässt.   Sie  haben  doch  in  ihrer  Vorlesung  von  Morphemen  gesprochen.   Meinen  Sie,  dass  man die  kleinste  mögliche  Sinneinheit  auf  den  Computer  übertragen  könnte?“  

Liebetreu  hatte  täglich  mit  dem Computer  zu  tun,  aber  warum  gerade  die Morphemmethode  dem  Computer  weiterhelfen  sollte,  konnte  er  sich  beim  besten  Willen  nicht  vorstellen.   Andererseits  hatte  er  lange  ein  spannenderes  Betätigungsfeld  als  die  Linguistik  gesucht.   Auch  war  das der Bereich,  der  von  der  öffentlichen  Hand  extrem  forciert  wurde.   Wer  den Schlüssel  zur  Wissensgesellschaft  findet,  na,  dem  gehört  die Zukunft. „Herr  Wolff,  kommen  Sie  doch  morgen  nach  der Vorlesung  um  14. 00  Uhr  vorbei.   Da  habe  ich  Zeit. “ 

Es  begann  schon  wieder  hell  zu  werden,  als  sie  auseinander  gingen.  

 „Herr  Wolff,  das müssen  sie sich  patentieren  lassen,  soll  ich  mit  einem  guten  Anwalt  einen  Termin  machen?“ 

„Herr  Professor,  das wäre  wirklich  ausgesprochen  zuvorkommend  von  Ihnen.   Wenn  das  möglich  wäre,  das  wäre  wirklich  phantastisch. “

Der  Patentanwalt,  der  im  Wesentlichen  für  ein  großes  Telekommunikationsunternehmen  arbeitete,  war  beeindruckt.   Nachdem  er  telefonisch  von Liebetreu  erfahren  hatte,  worum  es ging,  hatte  er  den  Termin  kurzerhand  dazwischen  geschoben. „So  was  kommt  mir  nur  selten  auf  den  Tisch.

“ Meist  geht  es nur  um  eine  kleine  Neuerung  an  einer  bestehenden  Technologie.   Wenn  wir  den  Verfahrenskern  herausarbeiten  können,  müsste  das  patentierbar  sein. “  

Nur  wenige  Wochen  später  bekam  Liebetreu  einen  Termin  im  Landesbildungsministerium.   1999  mitten  im  Internet  Hype  hatten  die  meisten  Ministerien  schon  das  ein  oder andere  Vorzeigeprojekt.   Diesen  Trend  hatte  man im  Bildungsministerium  bisher  verschlafen.   Die  im  Wirtschaftsministerium  würden  Augen  machen,  wenn  man hier  ein  Technologiecluster  bauen  könnte  und  das  gesamte  Internet  zukünftig  steuern  würde.   „Das  fördern  wir  alles.   Stellen  Sie  den  Antrag. “

Den  hatte  Liebetreu  gestellt  und  prompt  2  Millionen  Euro  bekommen.   Und  nun,  nun  war  er  nur  ganz  knapp  an  einer  Verurteilung  wegen  Untreue  vorbeigeschrammt,  weil  die  Richter  der  zweiten  Instanz  sich  zumindest  die  Beweise  angesehen  haben.   Persönlich,  persönlich  hatte  er  nur  Arbeit  damit.   Wenn  ihn  jemand  darauf  ansprechen  würde,  würde er  heute  leugnen,  dass  er  neben  vielen  Arbeitsstunden  auch  noch  persönlich  Geld  dahinein  gesteckt  hatte.   Alle  würden  ihn  für  einen  Trottel  halten.

Die  Rente  hatten  sie  ihm  unter  der  Voraussetzung  gelassen,  dass  er  keinen  Kommentar  zur  ganzen  Sache  abgeben  würde.  „Sie  würden  sonst  immer  einen  Weg  finden“  ließen sie ihn wissen. Wer sie waren, wußte er bis heute nicht so genau. Aber dass sie eine Möglichkeit fanden, ihm mitzuteilen, was sie von ihm erwarteten, ohne je mit ihm zu sprechen, zeigte, wie mächtig sie waren.

Sie  hatten  ihn  klein  gekriegt,  so  klein,  dass  er  in  Pagera  niemandem  erzählte,  dass  er  Professor  war.   Genaugenommen,  wenn  er  nicht  musste,  sprach  er  überhaupt  nicht  mehr  –  trotz  hervorragender  Kenntnisse  der  deutschen  Sprachsyntax.  

 

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